Samstag, 8. November 2014

Nationalgefühle Indiens - "I am proud of my country"

Bei einer Unterrichtsvorbereitung stieß ich vor einiger Zeit in einem Schulbuch auf eine Interessante Aufgabe. Die Kleinkinder sollten Sätze vervollständigen, sodass da stünde:

India is our country. | Indien ist unser Land.
I am an Indian. | Ich bin ein Inder.
All Indians are my brothers and sisters. | Alle Inder sind meine Brüder und Schwestern.
I love my country very much. | Ich liebe mein Land sehr.
I am proud of my country. | Ich bin stolz auf mein Land

Ab dem zarten Alter von fünf Jahren lernen die Kinder also, ihr Land zu lieben und stolz auf es zu sein. Liebe und Stolz erlernen. Da will ich meinem Freund Albin (26) doch mal ein paar Fragen stellen.

-F: Albin, warum bist du stolz auf dein Land?
-A: Ich bin Teil eines Landes, welches auf der ganzen Welt für seine Kultur bewundert wird. Trotz der großen Unterschiede innerhalb Indiens, was Sprache, Glaube und Tradition angeht, ist dieses Land einig.
-F: Der Kampf um die Unabhängigkeit, und schließlich Einheit, verlief in Indien ja sehr friedlich.
-A: Wir zeigten der Welt, wie man [seine Ziele erreicht] - "non violent"!
-F: Mir stellt sich da die Frage, wie du auf die Leistungen und Errungenschaften deiner Vorväter stolz sein kannst. Du selbst warst ja nicht dabei. Hast nicht gestreikt. Wurdest nicht verhaftet.
-A: Allein die selbe Nationalität mit den Freiheitskämpfern zu teilen, erfüllt mich mit Stolz.
-F: Kommen wir zu etwas anderem: Ich las zuletzt in einem Schulbuch eine Aufgabe für die Kinder (...). Sie lernten also in der Schule, ihr land zu lieben und stolz zu sein?
-A: Nein, wir lernten über unser Land und dessen Leistungen, Persönlichkeiten und Geschichte. Daraufhin und daraus entwickelte sich mein Nationalstolz.
-F: Albin, vielen Dank für das Gespräch.

[sinngemäß aus Gedächtnis wiedergegeben und übersetzt]

Während des Gesprächs erfuhr ich auch, was die Kinder in der St. Thomas Schule aufsagen, wenn sie stehend und ihre Rechte Hand nach Vorne strecken.

"India is our country. I am an Indian. All Indians are my brothers and sisters. I love my country very much. I am proud of my country."
Ich dachte zuvor, die Kinder würden dieses gemeinsame Ritual ihrer Schule widmen. Tatsächlich wiederholen sie jedoch eben jene fünf Sätze.

Wie lässt sich das einordnen? Würde ich "deutsche Maßstäbe" heranziehen, also mir in Gedanken vorstellen, wie sich obige Szenen an deutschen Schulen abspielten, käme mir das Schauern. Mit dem geschichtlichen Erbe Deutschlands im Hintergrund erschiene mir eine solche Art der "Indoktrination"  - gerade auch im schulischen Umfeld - bedenklich.

Das eingebettete Video stammt aus der Dokumentation "Social Reformers of
Kerala - Chavara Kuriakose Elias"

"Indoktrination" - Ein sehr negativ belegtes Wort. Versuche ich doch einmal, die indische Seite zu verstehen. In Indien leben anderthalb mal mehr Menschen als in Europa - auf etwa einem Drittel der Landfläche. Es gibt über 100 verschiedene Sprachen. Die Kulturen und ethnischen Gruppen unterscheiden sich teilweise mehr als die innerhalb Europas. Was hält diesen gewaltigen, föderalen Subkontinent zusammen?

Auch hier ziehe ich wieder einen Bekannten zurate. Der VOSARD-Administrator Suresh (52) nahm sich Zeit für ein kurzes Gespräch mit mir.

F: Indien ist ein Land mit so vielen unterschiedlichen Kulturen (...). Wodurch fühlen Sie sich mit dem Land verbunden?
S: Es ist die Mutterlandliebe. Diese bekommen wir schon in der Schule beigebracht.

Aha, also tatsächlich - als Schulkind lernt man, sein Mutterland zu lieben.

F: Und was ist wiederum der Grund für diese Mutterlandsliebe?
S: mh (überlegt)
F: Ist es vielleicht der gemeinsame Feind, das Britische Empire, das gemeinsame "Schicksal" der Unterwerfung? Der gewaltlose Kampf und Sieg über jenes Empire?
S: Ja - das ist es. Der Unabhängigkeitskampf wurde von zahlreichen Persönlichkeiten aus allen Landesteilen Indiens geführt.
F: Diese lernten die Mutterlandsliebe jedoch nicht in der Schule. 
S: Das ist natürlich richtig. Ich glaube, die Freiheitskämpfer hatten diesen einen, gemeinsamen Traum von einem unabhängigen Indien. Alleine für sich, in ihren kleineren Regionen, hätten sie es wohl auch nicht geschafft.
F: Suresh, vielen Dank für das Gespräch.

[sinngemäß aus Gedächtnis wiedergegeben und übersetzt]

Heute sind 96% der Inder in einem Post-Unabhängigkeits-Indien aufgewachsen und nur knapp 1% waren älter als 12, als die Unabhängigkeit 1947 proklamiert wurde. Die Zeit vor dem Nationalstaat ist aus dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft gelöscht oder besser verblasst. In der Schule lernen die Kinder über die Unabhängigkeitsbewegung und entwickeln - meinen Erfahrungen nach - zwar wohl nicht gegen ihren Willen, jedoch in einer wenig partizipatorischen Art und Weise, ein Nationalgefühl.

Flo

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