Donnerstag, 26. März 2015

Werte und Ziele

An einem Abend stellte ein Mitarbeiter im Gespräch mit mir fest: "Ich weiß, dass wir Beide völlig verschiedene Ziele für unser Leben haben. Das liegt daran, dass du von der deutschen und ich von der indischen Kultur beeinflusst werde." Diese Sätze haben mich zum Nachdenken gebracht. Seit fast acht Monaten arbeiten und leben wir zusammen und sind gute Freunde geworden. Wir werden uns immer vertrauter. Sind unsere Lebensauffassungen also wirklich so sehr unterschiedlich?

Und auch bei den anderen, mittlerweile vertrauten, Mitarbeitern kommt es mir so vor, als hätten wir viele Gemeinsamkeiten. Andererseits: Ja, natürlich sind wir in völlig verschiedenen Verhältnissen aufgewachsen, wurden von Familie und Gesellschaft beeinflusst. Anhand verschiedener Lebenssitu-ationen habe ich versucht herauszufinden, wie groß der Unterschied wirklich ist und ob es in den Grundauffassungen nicht doch einige Gemeinsamkeiten gibt.

Dazu habe ich mich mit jüngeren und älteren, weiblichen und männlichen Personen verschiedener Religionen und Berufe unterhalten: Ein älterer sowie drei jüngere christliche Angestellte VOSARDs, eine jüngere hinduistische Mitarbeiterin und ein älterer hinduistischer Arzt. Deren Ansichten sind natürlich längst nicht repräsentativ, aber darum geht es mir nicht. Ich möchte einfach ihre Mei-nungen und vor allem die Begründungen der Ansichten erfahren.

Bei all diesen Lebensfragen, ob es um Religion, die Bedeutung von Familie und Ehe, beruflichem Werdegang oder anderem geht, lassen sich die Überzeugungen anhand dessen unterscheiden, in welchem Grad sie entweder "liberal" oder "konservativ" sind. Wir alle positionieren uns irgendwo zwischen diesen beiden. Kaum ein Mensch vertritt eines der Extreme. Ich behaupte, dass zwar Jeder Ansichten beider "Meinungspole" in sich trägt, jedoch eher in eine der beiden Richtungen tendiert. Zu einem großen Teil setzen wir aufgrund gesellschaftlicher Einflüsse unsere Prioritäten.



Beispiel 1: Was ist das Ziel deines Lebens?

Oft bekomme ich als Antwort "Ich möchte ein gutes Leben führen, das beispielhaft für meine Familie und die Gesellschaft ist." Okay, dem würde ich nicht widersprechen, aber das Entscheidende liegt wohl in der Definition von "Gut". Als "Gut" bezeichnen einige der Befragten, nach der Religion zu leben, sich ein Beispiel an Jesus Christus zu nehmen. Häufig ist die Rede von Nächstenliebe sowie dem Dienst an den Armen der Gesellschaft. Insgesamt spielt Religion bei der Frage nach dem Lebensziel oft eine entscheidende Rolle. Durch einen Vertrauensverlust in die Religion könne es gar zum Scheitern im ganzen Leben kommen.

Es gibt aber auch andere Stimmen: "Genieße das Leben so sehr wie möglich, denn schließlich wissen wir nicht, was danach kommt. Dabei sollten wir aber moralische Werte nicht außer Acht lassen", sagt einer der jüngeren Mitarbeiter. Später stellt er klar, dass diese Überzeugung nicht von der Religion kommt, obwohl er gläubig ist. "Genieße das Leben so sehr wie möglich, denn schließlich wissen wir nicht, was danach kommt." - Später stellt er klar, dass diese Überzeugung nicht von der Religion kommt. Ein anderer junger Mitarbeiter erklärt, dass man die moralischen Werte auf verschiedenen Wegen bekommen kann - sowohl durch Religion als auch durch philosophische Herangehensweisen

... oder biologische: Der Arzt stellt heraus: "Unser Dasein sollte vorteilhaft für andere Menschen dieser und zukünftiger Generationen sowie für die gesamte Natur sein."

Ich selbst bin nicht gläubig, und trotzdem sind mir moralische Werte wichtig. Trotzdem empfinde ich soziale Verantwortung. Natürlich stimme ich nicht in allen Punkten mit religiösen Definitionen von "Gut" überein, aber viele Überschneidungen sind definitiv da. Nehmen wir z. B. den christlichen Wert der Nächstenliebe: Der lässt sich religiös, aber auch philosophisch begründen: Etwa durch Kants Kategorischen Imperativ. Der besagt unter Anderem, dass man keinen anderen Menschen bloß als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck sehen soll.



Beispiel 2: Kommt für dich eine Liebesheirat in Frage, oder wird deine Ehe voraussichtlich arrangiert? Bzw. würdest du deinen Kindern eine Liebesheirat erlauben?

Für die meisten Befragten kommt eine Liebesheirat für sie selbst bzw. ihre Kinder nicht in Frage. Ein Hauptgrund, warum die arrangierte Ehe bevorzugt wird, ist die Bedeutung der Familie. "Unsere Eltern haben sich so viele Jahre um uns gekümmert und dann bringen wir ein neues Mitglied in die Familie. Da müssen wir uns doch vorher mit ihnen beraten." Aber in der Regel wird sich nicht nur mit der Familie abgestimmt. Um genauere Informationen über den potentiellen Partner zu bekommen, werden Personen aus dessen Umfeld aufgesucht und zu seinen Eigenschaften befragt. Warum das alles?, dachte ich mir. Bin ich nicht selber dazu in der Lage, meinen Lebenspartner zu finden?

Ein älterer Mitarbeiter erklärt: "Das Problem ist, dass wir - gerade, wenn wir uns frisch verliebt haben - einerseits uns selbst nur von der guten Seite zeigen und auch nur die positiven Seiten des Gegenüber sehen. Wenn man dann aber erst einmal verheiratet ist und länger zusammenlebt, zeigen sich alle Charakterseiten. Oft kommt es dann zu Überraschungen und die Ehen scheitern schnell. Dem können wir vorbeugen, indem wir uns über denjenigen in seinem Umfeld umhören."

"Aber die Nachbarn, die wir befragen, sagen mit Sicherheit auch nicht immer die komplette Wahrheit", entgegnet einer der jüngeren Befragten. "Bei der traditionellen, arrangierten Ehe lernen wir die Person in der Regel vor der Heirat nicht oder nur flüchtig kennen. Dagegen kennen wir den Partner bei der Liebesheirat vor dem Zusammenleben schon viel besser. Und auch diese Ehen halten zumeist lange."

Er geht davon aus, dass er eine Liebesheirat haben wird. "Möglich ist das heutzutage aber nur in den Städten", erklärt er.

Eine ebenfalls liberale und den großen Zusammenhang sehende Meinung zum Thema Selbstbestimmung des Ehepartners hat eine junge hinduistische Mitarbeiterin: "Wenn ich jemanden mit anderer Religionszugehörigkeit heirate, hilft das, die Religionen näher zusammenzubringen."

Auch von Seiten der älteren Generation gibt es Sympathien zur Liebesheirat: "Ich mache mir keine Sorgen, meine Tochter wird sich ihren Partner selbst aussuchen", sagt der Arzt. Weiter stellt er heraus: "Die Kinder gehören uns Eltern nicht, wir haben nur die Verantwortung sie zum Erreichen ihrer Wünsche zu unterstützen. Wenn meine Tochter bevorzugt, jemanden anderen Glaubens zu heiraten, werde ich sie auch dabei unterstützen. Wenn ich den Partner nicht mag, werde ich sie nicht für ihre Wahl kritisieren."

Worum geht es also letztendlich? Vor allem um das glückliche Leben mit einem Partner, das wir erreichen wollen. Dazu gibt es die verschiedensten Wege und alle können zum Glück führen - sei es die arrangierte Ehe, die Liebesheirat oder die ehelose Partnerschaft. Was ich bei allen Befragten feststellen konnte: Einerseits möchten sie den Kindern Freiheiten in der Wahl des Partners geben, andererseits selbst Kontrolle über die Heirat behalten. Eben je nachdem wovon sie überzeugt sind, was besser für die Zukunft ihrer Kinder - und der Gesellschaft - ist.

Hochzeit in Kerala: Auch wenn die arrangierte Ehe noch die Regel ist, kommt es immer öfter zur Liebesheirat.



Beispiel 3: Haben deine Kinder automatisch deine Religion übernommen (bzw. werden sie diese übernehmen) oder haben sie Freiheiten in der Wahl der Religion? Was, wenn sie später im Leben zu einer anderen Religion konvertieren oder atheistisch leben möchten?

In der Regel bekomme ich als Antwort, dass die Kinder direkt nach der Geburt oder durch die Taufe die Religion übernommen haben bzw. übernehmen werden. Aber die Gründe dazu sind höchst verschieden. Einige vertreten die konservative Ansicht, dass die Tradition der Familie fortgesetzt werden soll: "Alles Gute, was meine Mutter mir gelehrt hat, werde ich auch an meine Kinder weitergeben." Außerdem wird teilweise die Gefahr gesehen, dass - wenn den Kindern die Wahlfreiheit gelassen wird - letztendlich gar keine Religion gewählt wird. So würden auch alle moralischen Werte schwinden und derjenige im Leben scheitern.

Der Grund eines anderen jungen Mitarbeiters, dem Kind die Religion "vorzuschreiben" ist eher ein zweckmäßiger: "Wir brauchen die Religion nicht, um moralische Werte zu lernen. Ich kenne Atheisten, die viel Gutes tun. Aber diese haben es im Leben schwer, sie finden z. B. schwierig einen Lebenspartner. Damit meine Kinder von der Gesellschaft mehr Anerkennung bekommen, werde ich sie früh taufen lassen."

Diese beiden Begründungen, den Kindern nicht die Möglichkeit zur Liebesheirat zu geben, sind wohl ziemlich gegensätzlich. "Etwas dazwischen" hält dieser Mitarbeiter für richtig: "Die Religion kann uns helfen, ein guter Mensch zu werden. Ich selbst habe Vieles durch den Katholizismusunterricht gelernt, auch viele praktische Dinge für das Leben. Trotzdem vertraue ich der Religion nicht blind. Vieles halte ich auch für unsinnig. Meine Kinder sollen zunächst einmal über das Christentum lernen, um in ihren Grundeinstellungen geformt zu werden und eine Orientierung zu bekommen. Ich wünsche mir, dass sie sich im erwachsenen Alter auch mit Philosophie beschäftigen."

Die junge hinduistische Mitarbeiterin sieht - wie die Meisten - auch die Probleme, dass die soziale Anerkennung sinken kann, wenn nicht eine Religion strikt verfolgt wird. Aber sie stellt sich den Schwierigkeiten: "Ich interessiere mich für alle Religionen. Ich gehe auch oft in die Kirche. Meine Nachbarn fragen mich manchmal, warum ich nicht nur hinduistische, sondern auch christliche Symbole trage. Meine Art mit den Religionen umzugehen kann also schon mal zu Unverständnis führen, aber das ist es mir Wert. Meinen Kindern werde ich ebenfalls die Wahl lassen."

Auch hier haben alle Ansichten eine Gemeinsamkeit: Ziel ist es, den eigenen Kindern die bestmögliche Zukunft zu ermöglichen. Einige gehen davon aus, die eigene Religion sei der beste Weg dazu. Andere denken, dass ihre Kinder am besten beurteilen können, welche Religion gut für sie ist und geben ihnen die Wahlfreiheit. Wieder Andere würden den Kindern gerne die Wahlfreiheit geben, tun dies aber auf Grund gesellschaftlicher Umstände nicht.



Beispiel 4: Rechnest du mit einem Wertewandel von den eher konservativen hin zu liberalen Werten? Inwiefern ist die Entwicklung positiv, inwiefern negativ zu beurteilen?

Es herrscht Einigkeit darüber, dass der Wertewandel weiter fortschreiten wird. Die Meisten sehen darin sowohl Chancen als auch Risiken: "Die individuelle Freiheit wird immer größer werden. Langfristig kann diese aber nur zum Erfolg führen, wenn sie auf Werten basiert. Schließlich würde uns ohne Werte nichts mehr von einem Hund unterscheiden. Werte müssen aber immer gleich bleiben", merkt ein älterer Mitarbeiter an. Ohne diese könne die Individualität schnell zu Egoismus führen.

Es soll also beides geben in der Zukunft, Freiheiten und Normen. Doch wie kommt es zu diesen? Sie können im Prinzip von überall kommen: "Wir werden unsere Werte in der Zukunft nicht mehr durch die Religion lernen." Auch Philosophie wird als mögliche Grundlage gesehen.

Die Liberalisierung ist unvermeidbar und Normen sowie Werte sind dabei zwingend nötig. Nur wie viele Einschränkungen der Freiheit gut sind - darüber lässt sich streiten.



Die Erfahrungen und Gespräche der vergangenen 8 Monate lassen mich den Eindruck gewinnen, dass die Menschen in Kerala tendenziell eher konservativer als in Deutschland eingestellt sind.

ABER:
  • Diejenigen, die die konservativen Einstellungen vertreten, tun das nicht ohne Grund oder einfach nur, um Traditionen zu wahren. Nein, die Tradition wird aus nachvollziehbaren Gründen als sinnvoll angesehen. Und natürlich wird oft mit liberaleren Möglichkeiten abgewogen und es werden Kompromisse geschlossen.
  • Es gibt - in allen Generationen, aber vor allem unter den Jüngeren - "Andersdenkende". Schon bei den wenigen Befragten waren einige dabei, die vergleichsweise sehr liberale Ansichten vertreten. 
  • Die Grundansichten überschneiden sich tatsächlich häufig - sowohl bei den Befragten untereinander als auch mit meinen Ansichten. Das zeigt sich am Heiratsbeispiel: Alle wollen eine glückliche Partnerschaft für ihre Kinder, nur halten sie verschiedene Wege dahin für sinnvoll. Grundsätzlich wird immer sowohl auf konservative als auch auf liberale Werte geachtet.
  • Auf Grund der Einflüsse der Gesellschaft (damit meine ich das individuelle Umfeld einer Person) wird in die eine oder andere Richtung tendiert. Es ist hier nicht sinnvoll, etwa von Einflüssen der keralesischen oder indischen Kultur zu sprechen. Kultur impliziert Tradition. Tatsächlich entscheidet aber jede Einzelperson einer Generation selbst, ob und welche Werte ihres Umfelds sie übernimmt. 
Als Antwort auf die anfangs aufgeworfene Frage kann ich feststellen: Die Ziele, die die Befragten in Kerala erreichen wollen, unterscheiden sich von meinen Zielen NICHT stark.

Die Wege, wie wir sie erreichen wollen, dafür umso mehr. Wobei sich diese Wege auch innerhalb Keralas stark unterscheiden und man somit nicht sagen kann, dass die Kultur die unterschiedlichen Lebenseinstellungen ausmacht.

Manuel

1 Kommentar:

  1. Voll Interessant! Ich kann mir richtig gut vorstellen wie du die Gespräche geführt hast :D. Aber wirklich spannende Ansichten und gute Argumente von jedem einzelnen deiner Gesprächspartner. :)
    Bis bald, Charlotte

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