Die
Mitarbeiter der NGO fragen uns, wie sich unser Bild von Indien seit
der Ankunft verändert hat, also heruntergebrochen – Erwartungen
minus Eindruck.
An
viele dieser Erwartungen können wir uns inzwischen gar nicht mehr
erinnern, wohl aber daran, dass wir – wie sicherlich viele andere
auch – Indien stets als „junges“ Land wahrgenommen haben. Sei
es im Film das verbreitete Motiv der spielenden Slumkinder (wie in
„Slumdog Millionaire“) oder in TV-Dokus Beiträge zum Thema
Kinderarbeit.
Tatsächlich
ist fast die Hälfte, nämlich 46,6%¹ aller Inder jünger als 25 Jahre – zum Vergleich – in Deutschland
sind es 23,6%².
Bei den über 65-Jährigen betragen die Anteile in Deutschland 20,9%
und in Indien 5,7%. Senioren gibt es dort also in Relation weniger.
Nichtsdestotrotz
kann man diese rapide wachsende Altersgruppe – gerade im Hinblick
auf Entwicklungszusammenarbeit – nicht einfach außer Acht lassen.
Das Senior Citizens Projekt der Organisation VOSARD beschäftigt sich
mit den Problemen der älteren Bevölkerung. Ein Mitglied einer
Selbsthilfegruppe aus diesem Projekt haben wir getroffen: Die 76
Jahre alte Premlata (Name geändert) wohnt im Idukki Distrikt im
Bundesstaat Kerala. Während sie früher als Hausfrau mit dem
Einkommen ihres Ehemannes gut auskam, geriet sie nach dessen Tod und
gesundheitlichen Problemen in Schwierigkeiten. Vor ca. 2 Jahren
schränkte sich ihr Hörvermögen zunehmend stärker ein. Dazu verlor
sie an Sehkraft, ihr Blutdruck erhöhte sich und seit kurzen plagen
sie auch noch Probleme am Herzen. Da sie mit diesen Problemen
nicht dazu in der Lage ist, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften,
ist sie auf die finanzielle Unterstützung ihrer Familie angewiesen.
Die staatliche Hilfe bringt ihr nur wenig. Zwar gibt es in staatlichen
Krankenhäusern kostenlose Behandlungsmöglich-keiten und Medizin. Da
sie aber sehr abgelegen und ländlich wohnt, kann sie diese nur schwer
erreichen.
Um
Abhilfe zu schaffen, entschloss sie sich vor zwei Jahren, einer von
VOSARD koordinierten Selbsthilfegruppe beizutreten. Neben neuen
sozialen Kontakten bekommt sie dort vor allem gesund-heitliche
Unterstützung: Bei den Treffen der Selbsthilfegruppe werden – vor Ort – gesundheitliche Check-ups durchgeführt und
Medizin verteilt. Durch diese regelmäßige Betreuung konnte sie ihr
Bluthochdruck-Problem in den Griff bekommen. Auch gegen ihre Herzprobleme
bekommt sie nun Medizin. Ein Problem ist nur – so erzählt sie – dass
die bei den Treffen verabreichte Medizin auf Dauer nicht
ausreicht. Sie wünscht sich häufigere Treffen, bei denen sie die
nötige Medizin bekommen kann.
Neben
der medizinischen Versorgung werden auch verschiedene Aktivitäten
zur Förderung der Bewegungsfähigkeit angeboten. Premlata selbst hat
an Yoga- und Fitnessstunden teilgenommen und berichtet stolz, dass
sie sich jetzt deutlich besser bewegen kann.
Yoga für Senioren der Selbsthilfegruppen von VOSARD |
Diese
Art der Unterstützung durch NGOs ist allerdings noch die Ausnahme.
Innerhalb des Idukki Distriktes gibt es Selbsthilfegruppen noch
längst nicht flächendeckend. Wir fragen den Projekt-koordinator
Albin Francis, was den Senioren langfristig helfen kann.
„Vieles
kann oder muss getan werden. Gerade im ländlichen Raum wäre es
wichtig für die Senioren, dass die Ärzte der staatlichen
Krankenhäuser direkt zu den Menschen kommen. Anders lässt sich das
Transportproblem kaum lösen. Mehr psychologische Betreuung wäre
wünschenswert. Auch sollten die Senioren vermehrt über ihre
altersbedingten Gesundheitsprobleme informiert werden. Dies kann
durch staatliche Aufklärungsprogramme, aber auch ein vermehrtes
Engagement der NGOs geschehen. Es braucht mehr Fachärzte in der
Geriatrie und die Betreuer für Senioren brauchen eine bessere
Ausbildung. Überhaupt auch mehr Einrichtungen, in denen sich die
Senioren treffen können, um soziale Kontakte zu pflegen.“
Es gilt also, einen langen Weg zu gehen. Dabei kann
Deutschland viel Know-how beisteuern. Zuletzt haben wir von einem
tollen Programm gehört, dessen Ziel es ist, junge Inder nach
Deutschland zu holen und sie hier als Altenpfleger auszubilden.
Danach würden sie als solche nach Indien zurückkehren, um dort zu
arbeiten. Eine win-win Situation: In Deutschland würde für die
Dauer der Ausbildung das momentan händeringend gesuchte Personal zur
Verfügung stehen, während in Indien im Anschluss qualifizierte
Altenpfleger die dort stark wachsende Bevölkerungsschicht der
Senioren betreuen können. Leider scheiterte diese Idee bisher am
deutschen Migrationsrecht.
Und wir stehen wieder vor unserer
Gleichung „Erwartung minus Eindruck“ ist gleich was? Wir erleben hier von
NGO-Seite sehr gute Ansätze, der Staat bleibt seinen verdienten Senioren jedoch
noch vieles schuldig. Unser Bild von Indien hat sich durch das
Auseinandersetzen mit dem Thema jedenfalls enorm erweitert.
Florian und Manuel
1
https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html
2https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gm.html
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