Donnerstag, 4. Dezember 2014

Das oft vergessene alternde Indien

Die Mitarbeiter der NGO fragen uns, wie sich unser Bild von Indien seit der Ankunft verändert hat, also heruntergebrochen – Erwartungen minus Eindruck.

An viele dieser Erwartungen können wir uns inzwischen gar nicht mehr erinnern, wohl aber daran, dass wir – wie sicherlich viele andere auch – Indien stets als „junges“ Land wahrgenommen haben. Sei es im Film das verbreitete Motiv der spielenden Slumkinder (wie in „Slumdog Millionaire“) oder in TV-Dokus Beiträge zum Thema Kinderarbeit.

Tatsächlich ist fast die Hälfte, nämlich 46,6%¹ aller Inder jünger als 25 Jahre – zum Vergleich – in Deutschland sind es 23,6%². Bei den über 65-Jährigen betragen die Anteile in Deutschland 20,9% und in Indien 5,7%. Senioren gibt es dort also in Relation weniger.

Nichtsdestotrotz kann man diese rapide wachsende Altersgruppe – gerade im Hinblick auf Entwicklungszusammenarbeit – nicht einfach außer Acht lassen. Das Senior Citizens Projekt der Organisation VOSARD beschäftigt sich mit den Problemen der älteren Bevölkerung. Ein Mitglied einer Selbsthilfegruppe aus diesem Projekt haben wir getroffen: Die 76 Jahre alte Premlata (Name geändert) wohnt im Idukki Distrikt im Bundesstaat Kerala. Während sie früher als Hausfrau mit dem Einkommen ihres Ehemannes gut auskam, geriet sie nach dessen Tod und gesundheitlichen Problemen in Schwierigkeiten. Vor ca. 2 Jahren schränkte sich ihr Hörvermögen zunehmend stärker ein. Dazu verlor sie an Sehkraft, ihr Blutdruck erhöhte sich und seit kurzen plagen sie auch noch Probleme am Herzen. Da sie mit diesen Problemen nicht dazu in der Lage ist, ein eigenes Einkommen zu erwirtschaften, ist sie auf die finanzielle Unterstützung ihrer Familie angewiesen. Die staatliche Hilfe bringt ihr nur wenig. Zwar gibt es in staatlichen Krankenhäusern kostenlose Behandlungsmöglich-keiten und Medizin. Da sie aber sehr abgelegen und ländlich wohnt, kann sie diese nur schwer erreichen.

Um Abhilfe zu schaffen, entschloss sie sich vor zwei Jahren, einer von VOSARD koordinierten Selbsthilfegruppe beizutreten. Neben neuen sozialen Kontakten bekommt sie dort vor allem gesund-heitliche Unterstützung: Bei den Treffen der Selbsthilfegruppe werden – vor Ort – gesundheitliche Check-ups durchgeführt und Medizin verteilt. Durch diese regelmäßige Betreuung konnte sie ihr Bluthochdruck-Problem in den Griff bekommen. Auch gegen ihre Herzprobleme bekommt sie nun Medizin. Ein Problem ist nur – so erzählt sie – dass die bei den Treffen verabreichte Medizin auf Dauer nicht ausreicht. Sie wünscht sich häufigere Treffen, bei denen sie die nötige Medizin bekommen kann.

Neben der medizinischen Versorgung werden auch verschiedene Aktivitäten zur Förderung der Bewegungsfähigkeit angeboten. Premlata selbst hat an Yoga- und Fitnessstunden teilgenommen und berichtet stolz, dass sie sich jetzt deutlich besser bewegen kann.

Yoga für Senioren der Selbsthilfegruppen von VOSARD
Diese Art der Unterstützung durch NGOs ist allerdings noch die Ausnahme. Innerhalb des Idukki Distriktes gibt es Selbsthilfegruppen noch längst nicht flächendeckend. Wir fragen den Projekt-koordinator Albin Francis, was den Senioren langfristig helfen kann.

Vieles kann oder muss getan werden. Gerade im ländlichen Raum wäre es wichtig für die Senioren, dass die Ärzte der staatlichen Krankenhäuser direkt zu den Menschen kommen. Anders lässt sich das Transportproblem kaum lösen. Mehr psychologische Betreuung wäre wünschenswert. Auch sollten die Senioren vermehrt über ihre altersbedingten Gesundheitsprobleme informiert werden. Dies kann durch staatliche Aufklärungsprogramme, aber auch ein vermehrtes Engagement der NGOs geschehen. Es braucht mehr Fachärzte in der Geriatrie und die Betreuer für Senioren brauchen eine bessere Ausbildung. Überhaupt auch mehr Einrichtungen, in denen sich die Senioren treffen können, um soziale Kontakte zu pflegen.“

Es gilt also, einen langen Weg zu gehen. Dabei kann Deutschland viel Know-how beisteuern. Zuletzt haben wir von einem tollen Programm gehört, dessen Ziel es ist, junge Inder nach Deutschland zu holen und sie hier als Altenpfleger auszubilden. Danach würden sie als solche nach Indien zurückkehren, um dort zu arbeiten. Eine win-win Situation: In Deutschland würde für die Dauer der Ausbildung das momentan händeringend gesuchte Personal zur Verfügung stehen, während in Indien im Anschluss qualifizierte Altenpfleger die dort stark wachsende Bevölkerungsschicht der Senioren betreuen können. Leider scheiterte diese Idee bisher am deutschen Migrationsrecht.

Und wir stehen wieder vor unserer Gleichung „Erwartung minus Eindruck“ ist gleich was? Wir erleben hier von NGO-Seite sehr gute Ansätze, der Staat bleibt seinen verdienten Senioren jedoch noch vieles schuldig. Unser Bild von Indien hat sich durch das Auseinandersetzen mit dem Thema jedenfalls enorm erweitert.

Florian und Manuel


1 https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html

2https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gm.html

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